Heute vor zwei Jahren bin ich das letzte Mal so richtig “normal” gelaufen. Ein Rollstuhl hat dort noch nicht zu meinem Leben gehört. Es sollte auch noch bis zum 4. Dezember dauern, bis es so weit war.
Es war ein ganz normaler Tag. Ich habe mich morgens an meinen Schreibtisch gesetzt, um dort irgendetwas zu machen. Was ich dort wollte weiß ich nicht einmal mehr. Zwei Stunden später wollte ich mir in der Küche eine Tasse Tee kochen. Ich stand von meinem Schreibtischstuhl auf und irgendwie war alles anders. Obwohl es jetzt zwei Jahre her ist kann ich mich an das Gefühl noch genau erinnern. Es war als hätte jemand meine Füße am Boden festgeklebt. Meine Schritte waren viel kleiner als sonst und das Laufen war generell ziemlich anstrengend. Also schlurfte ich in die Küche, um meinen Tee zu machen.
Ich hatte das Gefühl, dass es wieder ein Schub war. Und trotzdem die Hoffnung, dass es keiner war und es einfach verschwinden würde. Ich hatte doch im Februar mein erstes Medikament angefangen und ich wollte fest daran glauben, dass es half. Es musste helfen. Trotzdem hatte ich dieses untrügliche Gefühl, das bisher jeden meiner vier Schübe begleitet hat und ich wurde es einfach nicht los. Es war ein Donnerstag. Nach dem Wochenende würde ich weiter sehen.
Mein Gefühl behielt Recht. Es wurde nicht besser. Ich ging zu meinem Neurologen. Er meinte, dass mein Medikament wohl nicht helfen würde und dass ich ein stärkeres brauchen würde. Ich sollte für meine Cortisontherapie in die Klinik, die mit mir das weitere Vorgehen besprechen sollte. Also ging ich in die Klinik, um mir fünf Tage lang Cortison geben zu lassen. Ich machte mir nicht allzu viele Gedanken, bisher hatte Cortison immer geholfen.
Nach ein paar Tagen wurden meine Füße wieder leichter. Es war zwar nicht wieder gut, aber besser. Ich sollte wieder entlassen werden. Bei meiner Abschlussuntersuchung sollte ich dann eine Strecke auf den Hacken gehen. Nach ein paar Schritten schoss plötzlich ein starker Schmerz durch mein rechtes Bein. Ich konnte nicht mehr auftreten oder mein Bein ausstrecken. Es blieb einfach gebeugt, egal was ich tat. Eine Spastik.
Ich bekam ein Muskelrelaxans verschrieben und konnte nach Hause. Eigentlich. Wie läuft man ohne sein zweites Bein? Das konnte ich ja nicht strecken. Ich wusste nicht, wie das zu Hause gehen sollte. Ich fragte nach einem Rollstuhl, bis sich das Problem gelöst hatte. Ich bekam keinen. Das wäre bei mir nicht angezeigt. Ein wenig zynisch war die Situation schon: Krücken waren ja keine Option, denn hüpfen konnte ich nicht richtig wegen der fehlenden Kraft in meinem Bein. Meine Mama fuhr mich dann mit einem Klinikrollstuhl zum Auto. Den weiten Weg hätte ich sonst nicht geschafft.
Als es meinem Bein nach einer Woche immer noch nicht besser ging bekam ich nochmal drei Tage Cortison. Ich hatte daheim mittlerweile Physiotherapie und bei der Krankenkasse einen eigenen Rollstuhl beantragt. Es wusste ja keiner, wie es weiter gehen würde. Ich hoffte darauf, ihn einfach nicht zu brauchen, wenn er da wäre. Das Cortison und die Physiotherapie halfen nach und nach.
Ich übte aufstehen und stehen bleiben an einem Gitter im Treppenhaus. Dann kamen erste Schritte mit einem Rollator. Irgendwann war der Rollator in der Wohnung weg. Trotzdem war nicht alles wie vorher. Mein Zustand schwankt seitdem teilweise sehr stark. Alles ist sehr tagesformabhängig. Aber es ist okay, so wie es ist. Vieles hat sich seitdem in meinem Leben verändert. Das meiste davon war gut. Ich mag mein Leben so, wie es ist. Und mein Leben wäre definitiv anders, wenn dieser Schub nicht gewesen wäre. Nicht besser, aber anders.
So eine einschneidende Veränderung ist schwer für andere zu verstehen, wenn es durch eine schleichende Krankheit passiert. Ich glaube, dass ein klarer Schnitt wie bei einem Unfall dabei helfen kann (nicht muss), diese Veränderung zu realisieren. Viele, die einen Unfall hatten, erinnern sich immer an ihren Unfalltag als den Tag, der alles verändert hat. Würde ich mir ein Datum aussuchen müssen, seit wann es bei mir so ist wie es ist, dann wäre es heute vor zwei Jahren. Der 22. November 2018. Der Tag, an dem ich das letzte Mal so richtig “normal” gelaufen bin.
Foto: Rainer Sturm / pixelio
Ja Anna, es ist schon ein denkwürdiger Moment, wenn man mit einer neurodegenerativen Erkrankung, auf einmal auf einen Rollstuhl angewiesen ist, obwohl man in den meisten Fällen noch etwas gehen kann, aber eben nicht draußen wo es uneben ist, und längere Strecken schon gar nicht. Ich habe das ja auch schon alles mitgemacht, auch wenn es bei mir keine MS sondern eine Ataxie ist. Es war ein depremierender Prozess über fast 15 Jahre, aber seit ich vor etwas über drei Jahren einen Rollstuhl nutzen kann geht es mir dank der Mobilität wieder viel besser.
Ich denke wir können aber auch dankbar sein, nicht durch einen Querschnitt unsere Gehfähigkeit völlig verloren zu haben, sondern dass wir viele kleine Dinge des Alltags noch irgendwie auf unseren Beinen bewältigen können.
In diesem Sinne wünsche ich Dir weiterhin alles Gute, denke positiv und pass auf Dich auf. LG, Georg
Vielen Dank für deinen Kommentar 🙂 Ja, im Endeffekt bin ich ganz froh, dass es bei mir quasi “von heute auf morgen” kam und nicht so schleichend. Aber es ist so, wie du sagst: der Rollstuhl gibt einem sehr viel Mobilität wieder. Deshalb ist es ja schön, wenn man ihn nicht braucht, aber wenn doch ist man froh, dass er da ist.
Dir auch alles Gute!